Die enorme Dynamik im Telekomunikationsmarkt als besondere Herausforderung an die Marktforschung.

Anachronismen im TelekommunikationsmarktVon Jörg Kohlbacher


Anachronismen im Telekommunikationsmarkt

Waren es zu Beginn des Jahres 2000 noch 25 Millionen Handynutzer in Deutschland, sind es mittlerweile, kaum ein Jahr später, deutlich mehr als 48 Millionen. Kaum ein anderer Markt, mit Ausnahme des Internets, hat sich vergleichbar schnell entwickelt. Im Unterschied jedoch zu letzterem, scheint der Telekommunikationsmarkt, obgleich ebenfalls von den Unruhen an den neuen Märkten der Börse nicht ganz unbeeindruckt, derzeit über eine bedeutend bessere Substanz zu verfügen. Zu diesem Schluss muss man jedenfalls kommen, vergleicht man die wesentlichen Player mit so manchem »Start-up«-Unternehmen, dessen E-Commerce-Erfolge gestern noch gefeiert wurden und das heute eher dem Abgrund als dem Break-even nahe zu sein scheint. Die Kehrseite der Medaille und gleichzeitig die besondere Herausforderung für die Marktforschung ist, mit diesem Entwicklungstempo Schritt zu halten und - trotz allem - Marketing und Vertrieb verlässliche Informationen über Trends und Entwicklungen - jenseits der Aussage »...der Telekommunikationsmarkt wächst mit überragender Dynamik...« - zeitnah zur Verfügung zu stellen.

Dabei kommt es in einer solchen Phase natürlich zu irrwitzigen quantitativen Phänomenen von denen andere Branchen nur träumen können. Es mag einem Anbieter gelingen, seine Kundenzahl binnen eines Jahres um sagenhafte 70 Prozent zu steigern, gleichwohl erweißt es sich am Ende des Jahres, dass er deutlich Marktanteile gegenüber seinen wichtigsten Wettbewerbern verloren hat, da letztere im gleichen Zeitraum ihre Zahlen verdoppeln konnten. Natürlich würden schon solch quantitative Anachronismen alleine genügen, den Telekommunikationsmarkt, zum EI Dorado für Marktforscher zu machen. Dies hieße jedoch eine viel zu einseitige Beschränkung auf die quantitativen Phänomene des Marktes, währenddessen die eher qualitativen Elemente dieser Entwicklung auf der Strecke bleiben würden. Dabei ist gerade das rasante Entwicklungstempo, das diesen Markt vorantreibt, auch gleichzeitig die Ursache dafür, dass der Telekommunikationsmarkt eben nicht mehr dadurch hinlänglich beschrieben werden kann, dass man seine Verdopplung oder Verdreifachung konstatiert. Im Gegenteil, vielmehr kam es im Verlauf dieser Entwicklung zu vielfachen Strukturveränderungen und sogar Strukturbrüchen - ergo: qualitativen Veränderungen - die eigentlich um ein vielfaches spannender und zukunftsweisender für Marketing und Vertrieb sind als die reine Wachstumseuphorie.

 

Visionen, Widersprüche und reale Trends

Marktanteile der Netzbetreiber

Abbildung 1: Marktanteile der Netzbetreiber

Da wächst mit ungebremsten Tempo auf der einen Seite Internet, Festnetz und Handy-Technologie zusammen, während auf der anderen Seite ein gar nicht so geringer Teil der Kunden kaum die ihm vom Netzbetreiber zur Verfügung gestellte Mobilbox versteht. Alle Welt redet über UMTS-Lizenzen und die Möglichkeit bald Videos auf dem Handy betrachten zu können als ob diese Technologie unmittelbar vor der Tür steht und mindestens die Hälfte aller neuen Handy-Besitzer schafft kaum die Liste der zehn zuletzt gewählten Nummern aufzurufen. Diese Aufzählung von Visionen und Widersprüchen ließe sich beinahe beliebig verlängern, doch Marktforschung ist nicht zuletzt eine systematische oder zumindest systematisierende Profession, deshalb der Reihe nach:

1. Da wäre zunächst der Wandel der Zielgruppen: War das Mobiltelefon vor nicht zu langer Zeit noch ein Instrument für die eher schmale Zielgruppe mobiler Geschäftsleute, wurde das Handy in der Folgezeit für alle, die trendy sein mussten, zum notwendigen Begleiter, um allerdings bereits wenig später den Teens und Twens als ideales Instrument der aktiven Optimierung der Freizeitgestaltung für eine hochmobile Zielgruppe zu dienen. Mittlerweile sind es vor allem die »Älteren« und die »Frauen«, die mit großen Schritten ihre strukturelle Unterrepräsentiertheit in diesem Markt aufzuholen beginnen. Der häufigste Satz, der in Gruppendiskussionen zum Thema, was war denn der Auslöser dafür, dass Sie sich ein Handy angeschafft haben, gesprochen wird, ist ganz sicher: »Ich wollte nie so ein Ding haben ... Ich war immer dagegen«.

2. Ganz nebenbei wurde in diesem Zusammenhang vor allem durch die Teens und Twens - aber mittlerweile keineswegs mehr nur durch diese Gruppen - eine ganz neue Form des »stimmlosen Telefonierens« erfunden: Das Versenden von Textnachrichten - SMS. Sozusagen der kleine Bruder der E-Mail, der mittlerweile bei so manchen Kunden einen nennenswerten Teil der Gesamtrechnungshöhe ausmacht. War diese Form der Kommunikation zunächst eine Reaktion auf hohe Tarife und eine Möglichkeit, die Gesprächskosten im Zaum zu halten, hat sich das »SMSen« längst verselbständigt.

3. Natürlich wäre all das nicht möglich gewesen, wenn nicht die Netzbetreiber das Ihre dazu getan hätten: Der ständige Netzausbau, nebst Bereitstellung von immer mehr und immer ausgefalleneren Zusatz- und Mehrwertdiensten waren dabei sicherlich wichtige technische Voraussetzungen der Entwicklung. Es darf jedoch wohl vermutet werden, dass neben den vielfältigen Tarifsenkungen in den letzten Jahren, es vor allem die »Erfindung« (besser: Einführung) der Prepaid-Karte war, die dem Markt die letzte noch fehlende Initialzündung gab. Ohne Vertragsbindung, Grundgebühr und ohne Mindestgesprächsumsatz. Die Prepaid-Karte machte den Weg frei, aus dem ehemaligen »Werkzeug« Handy und dem zwischenzeitlichen Luxusgut nun endgültig einen Fun- und Konsumartikel zu machen, der nunmehr faktisch in alle Bevölkerungsgruppen Einzug hielt.

4. Und zu guter Letzt ein in diesem Zusammenhang ganz eigenes Thema ist die zunehmende Anzahl von Haushalten, die gar keinen Festnetzanschluss mehr haben. Ernstzunehmende Schätzungen gehen hier davon aus, dass bereits bis zu 10 Prozent aller Haushalte mit Handy, erst gar nicht mehr über das Festnetz erreichbar sind.

Wechselbereitschaft der Kunden

Abbildung 2: Wechselbereitschaft der Kunden

 

Konsequenzen

Nun sind diese in aller Kürze und mit unter sicherlich auch stark verkürzt dargestellten Veränderungen mit teilweise rechtdramatischen Implikationen für den ansonsten so prosperierenden Markt der Mobiltelefonie verbunden:

Ständiger Netzausbau, Investition in die UMTS-Lizenzen und die entsprechenden technischen Folgeinvestitionen bei gleichzeitig zunehmenden Wettbewerb und damit einhergehend fallenden Tarifen wären an sich schon Herausforderung genug.

Gleichzeitig hat die deutliche Verschiebung der Kundenstruktur von den Geschäfts-zu den Privatkunden natürlich die »Rechnungshöhe pro Kunden« drastisch nach unten korrigiert und damit den »Return-per customer« sicherlich nicht verbessert.

Die Prepaid-Karte macht nicht nur den Einstieg in die Mobiltelefonie, sondern ebenfalls den Um- oder Ausstieg leicht. Netzwechsel wird so einfach, wie der Kauf eines anderen Konsumgutes anstatt des bislang üblichen. Mit der Freigabe der Rufnummernportabilität im nächsten Jahr wird dabei eine weitere technische Sicherungsleine der Kundenbindung wegfallen, wenn dem Wechsler zwischen den Netzen noch nicht einmal seine angestammte Mobilrufnummer abhanden kommt. Sollte eingangs dieses Artikels der Eindruck entstanden sein, Marketing im Telekommunikationsmarkt gleiche in Anbetracht der dort herrschenden Rahmenbedingungen doch eher einem Sonntagnachmittag-Spaziergang denn harter Arbeit, dürfte mittlerweile klar geworden sein, dass in einem solchen Markt eine zielgruppenorientierte Marketingkommunikation aufzubauen oder den Produktnutzen zielgruppengerecht durch spezielle Zusatzfeatures zu erhöhen, ein kompliziertes Unterfangen ist. Kompliziert auch schon deshalb, weil die Daten und Informationen auf deren Basis die Strategien entwickelt werden, über erschreckend kurze Halbwertzeiten verfügen, also dass zwischen »brandheisser« Information und »Schnee von gestern« oft nur wenige Wochen liegen.

 

Gegenmaßnahmen

Kundenzahl und Marktanteile

Abbildung 3: Kundenzahl und Marktanteile (1999/2000)

Traditionelle Antworten der Marktforschung im Telekommunikationsmarkt waren bislang vor allem große und teure Ad-hoc-Studien, die zumindest für einen kleinen Moment die Illusion verbreiteten, die Realität widerzuspiegeln. Doch waren diese Instrumente vor allem den ganz Großen der Branche vorbehalten und auch für diese natürlich nur von temporär begrenzter Bedeutung. Dabei lässt sich im eigenen Kundenstamm noch mit einigermaßen vertretbarem Aufwand eine Stichprobe - auch exotischer Teilzielgruppen - ziehen, spätestens jedoch, wenn es um die Kunden der Wettbewerber geht, steigen die Screening - Kosten expotentiell an und man stößt sehr schnell an die Grenze dessen, wo man fragen muss, welchen Preis man für diese Information noch bereit ist zu zahlen.

Um das Problem, wie man die Haushalte, die über gar keinen Festnetzanschluss mehr verfügen, erreichen kann, mogelt sich, unseres Wissens nach, die Mehrheit der Institute herum, oder empfiehlt das in diesem Zusammenhang und für diese besonders mobile Zielgruppe (sprich: schwer erreichbar) doch höchst fragwürdige Instrumentarium der Face-to-Face Befragung. Dabei sei nebenbei angemerkt, dass dieses Problem ja keineswegs nur im Telekommunikationsmarkt relevant ist, sondern die Repräsentativität sämtlicher Telefonbefragungen unabhängig vom befragten Thema - in Frage stellt. Aber wie das Problem lösen? Bereits seit geraumer Zeit sinnierten wir bei Consilium in Darmstadt und MW Research in Hamburg darüber nach.

Zugute kam beiden Instituten dabei sicherlich, dass ein befreundetes holländisches Institut - Itc - bereits vor fast einem Jahr analog der Erkenntnis, dass das Handy fast ein Konsumgut geworden und entsprechend marktforscherisch zu behandeln ist, eine regelmäßige Busbefragung, den Mobile Monitor, ins Leben gerufen hatte. Dabei handelt es sich um eine monatliche Repräsentativ - Befragung von Nutzern und Nichtnutzern von Funktelefonen zu Fragen rund um die Bekanntheit und Nutzung diverser Dienste, Betreiber und Provider; zur Rechnungshöhe und Wechselabsicht und vieles andere mehr. Dabei wird der holländische Bus von Netzbetreibern, Service - Providern und Geräteherstellern gleichermaßen geschätzt.

Wandel der Zielgruppen

Abbildung 4: Wandel der Zielgruppen

 

Ein deutscher Mobile Monitor?

Bereits kurze Zeit später stand fest: Auch in Deutschland brauchen wir ein vergleichbares Instrument. Aber welche Elemente können vom holländischen Monitor übernommen werden und welche sind auf die besonderen Verhältnisse im deutschen Markt anzupassen? Fragen, deren theoretische Erörterung vielleicht heuristischen Wert hat, aber kaum praktischen Nutzen bringt. Es galt: Nur Versuch macht klug! In Zusammenarbeit mit Jörg Ermert von der T Mobil wurde deshalb im November 2000 eine große Ad-hoc-Studie, gleichsam als Probelauf des geplanten Monitors, durchgeführt. Dabei wurden mit erheblichen Aufwand auch die Kunden der Wettbewerber in die Untersuchung einbezogen, so dass der Name Pre-Test für diese Unternehmung wohl kaum angemessen wäre: Insgesamt konnten über 5.000 Interviews mit Handy-Nutzern der verschiedenen Netze und über 3.000 Interviews mit (Noch-nicht-) Nutzern durchgeführt werden. Themen waren neben der derzeitigen Netznutzung und der Erhebung diverser Strukturdaten vor allem auch das Anschaffungsinteresse der derzeitigen »Nichtnutzer« und die Frage danach, wie weit der Kaufentscheidungsprozess - im Hinblick auf Netz, Tarif- und POS-Wahl - bereits gediehen ist.

Aber der besondere Clou der Untersuchung war natürlich eine repräsentative Stichprobe derjenigen Haushalte zu ziehen, die über keinen Festnetzanschluss (mehr) verfügen und das »Matchen« dieser Daten mit der »normalen« Stichprobe. Ohne an dieser Stelle auf die Einzelheiten dieser Stichprobenbildung und der Ergebnisse eingehen zu wollen, zeigte sich fast erwartungsgemäß: Wer Marktführer im deutschen Mobilfunkmarkt ist, lässt sich auf Basis einer Telefonstichprobe von Haushalten mit Festnetzanschluss längst nicht mehr ermitteln. Bei einem Anteil von derzeit rund zehn Prozent Haushalten mit Handys aber ohne Festnetzanschluss (Tendenz steigend) wird die Betrachtung dieser jungen und besonders mobilen Zielgruppe zur conditio sine quanon, will man die Marktverhältnisse in diesem Markt korrekt abbilden.

Als vollkommen trügerisch erwies sich auch die Annahme, einer unterstellten Strukturgleichheit dieser beiden Märkte, analog der Hypothese: Was im Standardmarkt gilt, wird in diesem besonderen Segment schon nicht ganz verkehrt sein. - Im Gegenteil, die Strukturen und Profile der Handynutzer unterscheiden sich beträchtlich und unterstreichen damit noch einmal, wie wichtig es bereits jetzt ist aber erst recht zukünftig sein wird, diese Gruppen systematisch in solche Befragungen zu integrieren, will man nicht den Anspruch der Repräsentativität auf die schrumpfende Teilzielgruppe »Personen ab 14 Jahren, die (derzeit noch) über einen Festnetzanschluss verfügen« begrenzen. Bleibt abzuwarten, wie sich das Instrument in dem sicherlich noch für einige Jahre stürmischen Markt der Telekommunikation bewährt und ob es hält, was sich Marketing und Vertrieb davon versprechen dürfen. Das dieses Instrument von der ersten Idee bis zur Umsetzung nur weniger Monate bedurfte, ist nicht zuletzt der Unterstützung durch die T Mobil zu verdanken, die das Vorhaben in jeder Phase von der Vorbereitung bis jetzt zur unmittelbar bevorstehenden Realisierung verfolgte, uns beriet und gelegentlich auch korrigierend eingriff.

Zurück zur Übersicht

 

Planung & Analyse, 01.2001
Abdruck mit Genehmigung des Deutschen Fachverlages, planung & analyse, Mainzer Landstrasse 251, 60326 Frankfurt am Main, Tel. 069-7595-2019, Fax 069-7595-2017, redaktion@planung-analyse.de, www.planung-analyse.de